Juni 1910

01. Juni 1910
In höchst frecher Weise benahm sich gestern nachmittag in einigen Häusern der Logenstraße ein älterer Bettler. Wo man ihm die Vorsaaltüre nicht öffnete, suchte er die Klingeln zu demolieren, sodaß er energisch zur Rede gestellt werden mußte. In einem anderen Hause hatte er den Abortschlüssel abgezogen. Als man ihn darauf festhielt, leugnete er, denselben zu besitzen. Nach kurzer Zeit fand man jedoch den Schlüssel im Hofe liegen. Der Vagabund hatte denselben durch das offenstehende Hausflurfenster geworfen. Besser wäre es gewesen, man hätte den renitenten Menschen der Polizei übergeben, anstatt ihn ungehindert laufen zu lassen, denn in anderen Häusern dürfte er ebenso frech vorgehen.

02. Juni 1910
Gellende Hilferufe hörten gestern abend Besitzer von Schrebergärten in den Naturheilverein-Anlagen. Als sie den Rufen nachgingen, sahen sie einen jungen Menschen auf der Flucht, den sie festnahmen und der Polizei übergaben. Er junge Mann gestand ein, daß er mit einem ihm unbekannten Mädchen vom Schützenplatz aus nach den Anlagen spazierengegangen sei. Seinen zärtlichen Werbungen habe diese sich widersetzt und um Hilfe gerufen, sei dann aber davongelaufen. Man fand auch keine Spur mehr von ihr. Zwecks Untersuchung der Angelegenheit wurde der von auswärtig stammende junge Mann dem Amtsgericht übergeben.

07. Juni 1910
Aus Sängerkreisen wird uns geschrieben: Am vergangenen Sonnabend hielten die vereinigten Gesangsvereine hier im „Deutschen Krug“ eine gemeinschaftliche Gesangsprobe ab. Vertreten waren: „Sängerkranz“, „Humor“, „Sängerlust“, „Frisch auf“, „Lyra“, und „Sängerkreis“ mit rund 120 Sängern. Herr Bundesvorsteher M. Kranz begrüßte in herzlichen Worten die neue Vereinigung und kennzeichnete die idealen Bestrebungen der Gesangsvereine, die in der Zeit des Egoismus und Realismus besonders am Platze seien. Hierauf ließ Herr Bundesliedermeister H. Schönherr die Sänger zur Uebung antreten. Das Können des Chores zeigte sich im besten Lichte, Klangrein und innig trugen die Sänger die köstlichen Liederperlen vor. Möge die neue Vereinigung recht viele solche Stunden der Erholung, der Freude und des Genusses finden und dazu beitragen, Luft und Liebe am Gesang zu pflegen, die freundschaftlichen Beziehungen zu fördern oder neue Erfolge auf dem Gebiete der Sangeskunst zu zeitigen.

09. Juni 1910
Wie wir unsern Lesern mitgeteilt haben, ist es leider unmöglich, mit der Feier unseres 400-jährigen Stadtjubiläums zugleich die Weihe des Brunnens zu verbinden, der durch das Entgegenkommen des Sächsischen Kunstfonds unserer Stadt geschenkt wird. Um unsere Einwohnerschaft und unseren Gästen aber wenigstens zu zeigen, wie sich der Brunnen ausnehmen wird, soll an den Tagen des Jubiläums im Stadtverordnetensaale u.a. ein Modell des Brunnens aufgestellt werden. Wie wir hören, wird der Brunnen aus einem größeren und einem kleineren Becken aus Sandstein bestehen in dessen Mitte sich die lebensgroße Statue eines Mädchens, das einen Wasserkrug auf der Schulter trägt, erheben wird.

15. Juni 1910
Auf großer Fahrt befand sich heute nacht ein Einbrecher. Zunächst hat er der Langnickelschen Bäckerei in der Schubertstraße einen Besuch abgestattet; er hat seinen Weg von der Bahnseite aus durch den Garten genommen und ist von einem Schuppendach aus durch ein nur verhängtes Fenster in die Stube gestiegen, von wo aus er den Weg zum Laden fand. Dann hat er, um bequemer arbeiten zu können, die Gaslampe angezündet und sich an „die Arbeit“ gemacht. Alle Kästen in denen er Mitnehmenswertes vermutete, wurden durchwühlt. Sein Sinn war nur auf bare Münze gerichtet und es fielen ihm auch gegen 25 Mark Geld in die Hände. Nachdem er hier sein Geschäft erledigt hatte, setzte der Dieb seine „Besuchsreise“ fort und glaubte auch im Restaurant „Johannisgarten“ das zu finden, was er suchte. Er hatte sich aber getäuscht, denn die Oeffnung des Geldkastens, die ihm auch dort gelang, hatte ein völlig negatives Ergebnis. Dafür ließ der Einbrecher ein paar gute Herrenstiefeletten mit Schnallen mitgehen und tauschte dafür seine alten, abgetretenen Halbschuhe ein. Im übrigen ließ er alles unberührt, verlor aber hier den vom Langnickelschen Besuch mitgenommenen Ladenkassenschlüssel. Eine Spur von dem Einbrecher hat man bis jetzt noch nicht gefunden.

22. Juni 1910
Unlängst wurde auf dem Berge ein Steinblock errichtet zum Gedächtnis an einen Einwohner, dem unsere Stadt viel Gutes verdankt. Die Bedeutung dieses Ehrenzeichens ist nun auch äußerlich kundgetan werden. Uns wird hierzu geschrieben:

„Zum Andenken an
Herm. Ferd. Säuberlich.
Die dankbare Stadt
Hohenstein-Ernstthal
1910“

Diese Inschrift trägt die seit einigen Tagen an dem großen Granitblock im Stadtpark angebrachte Bronzetafel. Durch sie wird das Andenken wachgehalten an einen edlen Menschenfreund, der die Mittel bereitstellte zum Stadtpark. Zusammen mit dem Wäldchen des Erzgebirgsvereins und der Gruberhöhe bildet dieses schöne Fleckchen Erde eine köstliche Erholungsstätte für die Einwohnerschaft und einen Schmuck der Landschaft.

24. Juni 1910
Eine eigenartige Erscheinung war gestern nachmittag gegen ¾ 2 Uhr auf der Hüttengrundstraße zu beobachten. Auf den Feldern war man eifrig mit dem Heu-Einbringen beschäftigt. Plötzlich sah man hoch oben in den Lüften zerzauste Bündel Heu fliegen, die sich im Winde drehten und dann langsam zur Erde niederfielen. Im selben Augenblick wirbelte der Staub auf der Straße im Kreise empor und nahm die Form eines aufrecht stehenden Kegels an. Bemerkt sei noch, daß es zur Zeit der Beobachtung fast windstill war.

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